Gendergerechte Sprache und Linguistik

Foto: Markus Winkler (CC0)

Wir hatten die Möglichkeit, ein Gespräch mit Professorin Dr. Damaris Nübling (Linguistin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) zu führen und viel über gendergerechte Sprache dazuzulernen. Fragen zu den Effekten des vermeintlichen generischen Maskulinums und der Zusammenhang zwischen Genus, Sexus und Gender wurden unter anderem wissenschaftlich erläutert.

Genderlinguistik und Doing-gender-Ansatz

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich die Genderlinguistik nicht nur mit der einseitigen Ungleichbehandlung auseinandersetzt. Sie hat beide Geschlechter im Blick und betrachtet den Einfluss von Geschlechtern per se. Verfolgt wird dabei der sogenannte Doing-gender-Ansatz: Dabei wird davon ausgegangen, dass das, was wir für ein Geschlecht halten, weniger biologisch, sondern vielmehr kulturell ist. Der Fokus wird somit auf Situationen und Interaktionen gesetzt, in denen Gender dargestellt und wahrgenommen wird. Die Genderlinguistik beschäftigt sich dabei zum Beispiel auch mit dem nonverbalen doing gender, bei dem unter anderem die Lächelfrequenz, das Lachverhalten und die Körperhaltung eine Rolle spielen. Ein weiteres Beispiel stellt das lexikographische doing gender dar. Dabei geht es um die sehr ausgeprägte unterschiedliche Darstellung von Frauen und Männern in Wörterbüchern. Die Beispielsätze in Grammatiken und Lexika heben zum Beispiel, so Frau Nübling, oftmals unnötigerweise negative Stereotypen hervor. Einen wichtigen Punkt stellt zudem das konversationelle und journalistische doing gender dar. Relevante Untersuchungsinhalte sind hierbei u. a. das Gesprächsverhalten, die Themensetzung, die Radio- /Fernsehwerbung und auch die Einladungspolitik in Talk Shows: Männlicher Fachmann und weibliche Betroffene – eine häufig anzutreffende Studio-Konstellation. Ein weiterer Aspekt im journalistischen doing gender ist auch die Berichterstattung: Wie wird über Politiker und Politikerinnen berichtet? Politikerinnen bekommen häufig Fragen gestellt, die ein Politiker in dieser Form nicht gestellt bekommt. Eine Beobachtung, die auch im diesjährigen Wahlkampf gemacht werden konnte.

Zusammenhang von Genus, Sexus und Gender

Anschließend hat uns Frau Nübling einen ihrer Forschungsschwerpunkte vorgestellt: Der Zusammenhang von Genus, Sexus und Gender. Definiert wird dabei das Genus als inhärent: Femininum, Maskulinum und Neutrum. Der Sexus bildet das biologische Geschlecht ab. Das könne beim Menschen mittlerweile als irrelevant betrachtet werden, durch die Tierwelt spielt es jedoch dennoch eine Rolle. Gender stellt das soziale Geschlecht dar, das graduell auf einer Skala zu betrachten ist: weiblich, männlich, divers. Das Sexus-Genus-Prinzip hat zu etwa 99 % Gültigkeit in der deutschen Sprache. Das bedeutet, dass das Genus mit dem Sexus in etwa 99 % der Fälle übereinstimmt (der Onkel, der Vater, die Mutter, die Tante etc.) Oftmals wird von Kritikern und Kritikerinnen jedoch behauptet, dass das Genus nichts mit dem, was die Linguistik Sexus nennt, zu tun hätte. Als Gegenbeispiele verwies Frau Nübling auf die bloße Nutzung von Familiennamen, bei der nur das Genus das Geschlecht angibt. Wohl kaum jemand wird nachfragen, ob mit „der Schmidt geht nach Hause" Herr Schmidt oder Frau Schmidt gemeint ist. Auch bei substantivierten Adjektiven ist das sogenannte Differentialgenus zu beobachten: der/die Kranke, Versicherte, Vorsitzende usw.

Nun stellt sich die Frage, was mit ursprünglich unbelebten Dingen passiert. Diese werden häufig in Mythologien, Kinderbüchern und Werbung beispielsweise personifiziert und damit belebt gemacht (die Sonne/der Mond, die Gabel/der Löffel, die Mosel/der Rhein). Dabei ist oft zu beobachten, dass der Sexus entsprechend dem verwendeten Genus bestimmt wird. So wird im Deutschen die Sonne zumeist als Frau und der Mond als Mann dargestellt. In den romanischen Sprachen, in denen die Genusverteilungen umgekehrt sind (z.B. la luna/el sol), erfolgen auch umgekert Vergeschlechtlichungen: der Mond (la luna) als Frau, die Sonne (el sol) als Mann. Als weitere Beispiele nannte Frau Nübling das Gedicht „Herr Löffel und Frau Gabel" von Christian Morgenstern und auch die Darstellung von Vater Rhein (der Rhein als Mann) und Mutter Mosel (die Mosel als Frau) in Koblenz. Untersuchungen gab es zu dieser Thematik auch bei Tierbezeichnungen, wie dem Käfer, dem Maulwurf und der Raupe. Bei der genusgesteuerten Zuschreibung eines Geschlechts werden diese Tiere geschlechtsstereotyp gekleidet und mit entsprechenden Namen versehen. Hier gibt es laut Untersuchungen eine Übereinstimmung zwischen Genus und zugeschriebenem Geschlecht von etwa 90 %. Festzuhalten ist insgesamt, dass das Genus per se eine Vergeschlechtlichung bahnt, selbst dann, wenn es sich nicht um Menschen handelt.

Doch wie sieht es bei den Neutra aus? Auch die Neutra wurden von Frau Nübling beleuchtet. Bei diesen herrscht ein sogenannter male bias. Das bedeutet, wenn Genus kein bestimmtes Geschlecht nahelegt, ist der Normalfall der Mann. Aufschlussreich sind auch maskuline Tierbezeichnungen in Kombination mit weiblichem Verhalten (trächtig sein, Eier legen, Junge säugen etc.) So heißt es bei Kritikern und Kritikerinnen, dass bei Tieren Genus-Sexus vollkommen irrelevant sei und ein Elefant auch eine Elefantenkuh sein könne. Frau Nübling verwies darauf, dass es dann auch vollkommen normal sein müsste, zu lesen, dass ein Elefant sein Junges säugt. Bei einer Korpus-Untersuchung, bei der ganze Jahrzehnte von Zeitungen und Büchern ausgewertet wurden, war jedoch festzustellen, dass in über 80 % der Fälle, bei denen weibliches Tierverhalten auftritt, das Tier, bspw. der Elefant, zur Elefantendame, Elefantin oder Elefantenkuh wird und damit zu einem Femininum. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass das maskuline Genus mit dem weiblichen Verhalten inkongruent ist. Selbst bei Tieren besteht also ein Zusammenhang zwischen dem Genus der Tierbezeichnung und dem Geschlecht. Das Genus bahnt demzufolge nicht nur beim Menschen das Geschlecht, sondern auch bei Tieren und Gegenständen.

Zurück zur Kernfrage des Vortrags: Wenn der Rhein, der Mond etc. männlich personifiziert werden und die Mosel etc. weiblich, was ist dann von maskulinen Menschenbezeichnungen wie der Schüler, Student, Arbeiter etc. zu erwarten? Alle Rezeptionstests sehen keine geschlechtsneutralisierende Funktion. Die Frage nach dem sogenannten generischen Maskulinum lässt sich demnach verneinen.

Abweichungen vom Sexus-Genus-Prinzip

Frau Nübling führte uns noch ein Stück weiter zu den Abweichungen vom Sexus-Genus-Prinzip. Diese Abweichungen sind beispielsweise bei das Weib und das Mädchen zu erkennen. Hier werden Neutrum-Formen eingesetzt, obwohl es sich um eine Frau bzw. ein Mädchen handelt. Laut Frau Nübling werden diese Beispiele gerne genutzt, um zu belegen, dass das Genus nichts mit dem Geschlecht zu tun habe. Dabei empfiehlt es sich, diese Formen einmal genauer anzusehen. Die Sprachwissenschaftlerin Alexandra Aikhenvald und der Sprachwissenschaftler Östen Dahl haben hierzu feststellen können, dass in allen Sprachen der Welt mit einer Abweichung vom Sexus-Genus-Prinzip eine Person degradiert wird. Feminine Männerbezeichnungen wie die Memme, die Schwuchtel, die Tunte sind hier nur ein paar unrühmliche Beispiele. Bei Frauen existieren hingegen eher weniger maskuline Männerbezeichnungen (der Vamp), aber dafür viele Neutra: das Aas, das Ding, das Weib, das Luder, das Stück, das Flittchen u. ä. Im Neutrum befindet sich regulär nur unbelebtes (das Wasser, das Eisen etc.). Ausnahmen bilden beim Menschen kleine Kinder, für Erwachsene sind die Neutrum-Formen jedoch äußerst brisant. Indem Männer und Frauen in die falsche Genus-Klasse gesteckt werden, wird das Sozialverhalten erkennbar als abweichend markiert und human deklassiert. Gender fungiert an dieser Stelle als soziale Kategorie und wird durch deviantes Genus angezeigt

Interessant sind auch die Anglizismen, denn sie bekommen erst im Deutschen ein Genus. Dabei ist zu erkennen, dass z. B. das Playmate, das Bunny, das Hottie, das Pin-up usw. im Neutrum stehen, während die Queen im Femininum steht. Laut Köpcke und Zubin (2003) wurden ca. 100 Neutra gefunden, die primär oder sekundär auf Frauen Bezug nehmen, nicht jedoch auf Männer. Nicht im Neutrum steht die Verheiratete, sozial arrivierte (Ehe) Frau/Mutter. Sie wird genus-grammatisch richtig behandelt.

Frau Nübling erklärte weiter, dass bei Frauenbezeichnungen die Genus-Zuweisung die Geschlechterordnung widerspiegelt und diese damit mit Gender zu tun hat. Neutrale Bezeichnungen für junge/unverheiratete Frauen bezeichnen die sozial als unfertig betrachtete Frau. Die Heirat bewirkt einen Genus-Wechsel, der mit dem richtigen Sexus kongruiert. Nach der Heirat herrscht dann eine sogenannte Genus-Sexus-Konkordanz: die Braut, die Frau, die Mutter. Die vermeintlichen Gegenbeispiele bezeichnen also vielmehr die Frauen, die gesellschaftlich nicht anerkannt sind. Als weiteres Beispiel stellte uns Frau Nübling Gerichtsakten aus dem 18. Jh. vor. In diesen Akten wurden Mütter zunächst im Femininum beschrieben, sobald jedoch eine uneheliche Mutterschaft gestanden wurde, kippte die Bezeichnung ins Neutrum.

Fazit

Als Fazit konnte somit festgehalten werden, dass das grammatische Genus engstens auf das Geschlecht verweist. Dabei verweist es nicht nur auf den Sexus, sondern auf Gender als soziales Geschlecht. Genus-Sexus-Abweichungen spiegeln folglich auch soziale Abweichungen wider. Sie bestätigen somit die Genus-Sexus-Regel, da bei einem Verstoß gegen diese Regel die Person degradiert wird. Es werden dabei zum einen Geschlechterrollenverletzungen markiert: die Tunte, der Vamp, das Weib, das Merkel. Zum anderen wird eine als unreif gesehen Frau markiert und ihre (historische) Abhängigkeit vom Familienvater durch Neutra verdeutlicht (das Mädchen, das Fräulein, das Anna). Rollenabweichende Männer werden wiederum durch das Femininum degradiert (die Tunte, die Schwuchtel, die Memme). An dieser Stelle ist auch zu erkennen, dass Geschlechter insgesamt hierarchisch gelesen werden (Maskulinum --> Femininum --> Neutrum).

Dass Frauen immer mitgemeint sind, ist laut Untersuchungen eher unwahrscheinlich. Hierzu stellte uns Frau Nübling eine Untersuchung von Stahlberg und Sczesny vor. Sie untersuchten mit 100 Versuchspersonen (geschlechtlich ausgewogen) die Effekte des vermeintlichen generischen Maskulinums und alternativer Sprachformen auf den gedanklichen Einbezug von Frauen. Bei der Untersuchung sollten beliebte Persönlichkeiten genannt werden. Unter den 16 Fragen waren 10 Distraktionsfragen und 6 Fragen von Interesse:

a) Frage nach dem Lieblingsromanhelden, dem Lieblingsmaler, - musiker, -sportler etc. nur im „generischen Maskulinum" (Lieblingsromanheld)
b) neutral (Umschreibung): „heldenhafte Romanfigur"
c) mit Beidnennung: Ihre liebste Romanheldin/ihr liebster Romanheld

Das Ergebnis: Die sprachliche Version beeinflusst deutlich die Geschlechtswahl. Bei Frage c) wurden signifikant mehr weibliche Personen genannt, ähnlich wie bei Frage b). Ein weiterer Test mit der sogenannten Binnenmajuskel (PolitikerInnen) inkludierte am meisten Frauen in den Antworten. Stahlberg und Scezny (2001) hielten daraufhin fest, dass der Gebrauch des generischen Maskulinums zu einem geringeren gedanklichen Einbezug von Frauen im Vergleich zu alternativen Sprachformen wie der Beidnennung und der Binnenmajuskel führt. Diese Effekte zeigten sich sowohl bei direkten Maßen wie der Anzahl der Nennung von Frauen als auch in eingeschränkter Form bei indirekten Maßen wie Reaktionszeiten. Im Vergleich zur Beidnennung führte insbesondere das „Große I" zum stärksten gedanklichen Einbezug von Frauen. Frau Nübling merkte hierzu außerdem noch an, dass bei den neutralisierenden Beschreibungen weiterhin der bereits erwähnte male bias besteht.

Möglicher Umgang mit gendergerechter Sprache

Doch wie geht man nun am besten mit diesen Erkenntnissen um? Frau Nübling empfahl eine Mischung der verschiedenen Formen zu wählen: Präsenspartizipien (Teilnehmende, Unterrichtende, Studierende), Pluralformen, Umschreibungen (Alle, die studieren statt alle Studenten), die Leitung statt die Leiter. Sie betonte auch die Wichtigkeit, sich dem Publikum anzupassen und verwies auf die bereits existierende sprachliche Anpassung in Bezug auf Formalität und Dialekt. Angst vor eine diktierten Gendersprache bräuchten auch die KritikerInnen geschlechtergerechter Sprache nicht zu haben. Es sei vielmehr zu hoffen, dass sich Menschen mehr Mühe geben, geschlechtergerecht zu formulieren, genauso wie immer weniger rassistisch formuliert werden sollte. Für offizielle Texte gebe es Leitfäden, die keine Vorschriften, sondern lediglich Hilfestellungen seien für diejenigen, die sich geschlechtergerechter ausdrücken möchten.

Wir bedanken uns herzlich bei Professorin Dr. Damaris Nübling für diesen sehr interessanten und lehrreichen Einblick in die wissenschaftliche Forschung zu geschlechtergerechter Sprache!

 

Helen Weigand, Oktober 2021